"Henners Traum
Das größte Tourismusprojekt Europas"
Bemerkungen zu der preisgekrönten Dokumentation von Klaus Stern
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Eine dämmrige, menschenleere Ödnis, anscheinend irgendwo weit draußen am Rand der Welt – das sind die Eingangsszenen von "Henners Traum". In die schwelende Stille mischen sich dramatische Gitarrenstimmen mit Mundharmonika und scheinen die Situation zum knistern zu bringen – eine Ouvertüre wie in manchen Italowestern. Kreischende Krähen umkreisen ein Glockentürmchen.
Das prägnante Türmchen verrät, wo das Ganze spielt: auf Gut Beberbeck und der Beberbecker Hute, dieser 1000 Hektar großen Rodungsinsel im westlichen Reinhardswald, einem der stillsten Winkel im Land. Charakteristisch sind hier die imposanten Eichenalleen, im nächsten Ausschnitt-Bild links bergan die zwei Kilometer lange Huteallee.
Der Film beschließt das Intro mit einem Blick von der Huteallee ins Tal hinunter, und ein Läufer kommt die Allee herauf gehechelt. – Es ist Henner.
Henner – das ist Heinrich Sattler, 1997 bis 2014 Bürgermeister von Hofgeismar, der ehemaligen Kreishauptstadt am Reinhardswald. Man erkennt ihn leicht an seinem typischen Styling á la Onkel Otto, unten in der Mitte zusammen mit dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (rechts) und dem inzwischen ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.
Henner nutzt gern die stillen Beberbecker Alleen zum Dauerlauf. Für die Stille an sich hat er aber nichts übrig, er will es spektakulärer.
Sein Traum ist, Beberbeck in einen riesigen Freizeitpark zu verwandeln: Schloss Beberbeck Resort, "das größte Tourismusprojekt Europas". Die Idee umfasst fünf Luxushotels, mehrere touristische Villen-Dörfchen, zwei, drei oder fünf Golfplätze, eine künstliche Seenplatte sowie Trabrennbahn und Poloplatz – dies alles, wohlgemerkt, bei den klimatischen Bedingungen Hessisch Sibiriens. Die Dimension ist kaum fassbar, doch es gibt ein Modell als Hilfestellung:
Rechts im Modell ist die Alleen-Kreuzung zu sehen, von der aus zwei Bilder zuvor die Kamera Richtung Schloss ins Tal blickte. Um das gigantische Vorhaben umzusetzen, müsste zunächst einmal dieses Grundstück erworben werden, die hessische Staatsdomäne Beberbeck. Sie war ursprünglich als Gestüt gegründet worden (mehr dazu bei [Renner]) und umfasst noch einige davon herstammende Gebäude, darunter sind:
Herrenhaus ("Schloss") | Offiziantenhaus | Landarbeiter-Dorf |
Für das Bauprojekt würden darüber hinaus 420 Millionen Euro aufgetrieben werden müssen, und dieser Aufgabe widmet sich Henner mit all seiner Kraft. Der Film begleitet ihn auf seiner abenteuerlichen Suche nach Investoren und zeigt, wie er dafür an die mondänsten Orte im In- und Ausland reist und Finanzmoguln umwirbt, angefangen bei einschlägigen Bauunternehmen bis hin zu arabischen Scheichs.
Für die Bewegung auf der internationalen Bühne fehlt Henner jedoch die Klasse, und so wird er von seinen Verhandlungspartnern noch weniger ernst genommen als schon ohnehin wegen der wahnwitzigen Projekt-Dimension. Zuweilen belächelt und manchmal auch hochgenommen, wird er zum tragikomischen Helden in einer fast ebenso tragikomischen Dokumentation. Daran ändert auch nichts, dass meistens der schelmische Projekt-Architekt an Henners Seite mit von der Partie ist. Dieser ist in der Tat ein gewiefter internationaler Player, welcher auf der halben Welt die Schwächen eitler Magnaten ausnutzt, um mit seinen Luxusplanungen ihre Geldhähne anzuzapfen. Dabei drängt sich etwas spekulativ gleich die Frage auf: Sollte er vielleicht auch Henner das ganze Projekt erst eingeredet haben? Der Verdacht ist zumindest nicht ganz von der Hand zu weisen. Da passt auch gut das monumentale Übermaß ins Bild, das er als notwendig ausgibt, da andernfalls das Projekt umkippe, "weil dann die Synergien fehlen".
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Der Kasseler Dokumentarfilmer Klaus Stern hat das ganze Abenteuer von Anfang an über zwei Jahre lang mit der Kamera begleitet und dem Bürgermeister ein Einsteckmikrofon mitgegeben. So kommt der Film ohne jeden Kommentar aus und enthält ausschließlich Originalton der Protagonisten. Objektiver geht es nicht, und der Zuschauer ist direkt dabei, wie der Bürgermeister im Ringen um sein Luftschloss immer weiter vom Boden abhebt und der Realität entschwebt.
Mit jeder Etappe seines Trips rennt er neuerlich vor die Wand, so auch auf der Internationalen Tourismus-Börse in Berlin 2007, die hier einmal als Beispiel herausgegriffen sei und auf die sich das mittlere Umschlag-Bildchen bezieht:
Henner besucht den Messestand des Emirats Dubai, um dort den Botschafter für sein Projekt zu gewinnen. In hilflosen Englischbrocken erklärt er den Dubais (oder wie immer deren korrekte Bezeichnung lautet), dass er in West-Deutschland Bürgermeister ist und seine Stadt 17 Einwohner habe. Die Dubais korrigieren prompt: "17000 Einwohner?"
"Ja. Wir wollen das größte und beste Ferien-Resort bauen mit fünf, sechs Hotels, fünf Sterne, und zwei, drei Golfplätzen, und jetzt suchen wir Investoren."
"Da wünschen wir alles Gute..."
Der Botschafter beeilt sich, Henner los zu werden und überreicht ihm, mit der Anmerkung Dubai sei immer großzügig, einen ausgestopften Falken als Souvenir. Dummerweise war diesmal der Architekt nicht dabei, sondern er trifft erst jetzt verspätet ein. In seiner stets leicht ironischen Art begrüßt er Henners Begleitung mit den Worten "die schönen Damen dieser Welt" und reagiert etwas gestikulierend auf das Betatschen.
Auf dem Weg zum Auto fragt dann Henner seine Begleitung, wo man den Falken am besten deponieren könnte. – "In Karlshafen beim Heiner, im Kabuff hinten, da deponiern 'mer das." Henner bejaht das und bittet seine Begleitung noch um ein kleines Küsschen, es sei ja keiner da.
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Eine andere Episode handelt vom Ortstermin mit einer hessischen Regierungsdelegation in Beberbeck. Dabei versichert Henner dem Ministerpräsidenten, "der Einzige, der hier muckt," sei der Domänen-Verwalter, alle anderen freuten sich auf das Projekt.
Hier erübrigt sich wahrscheinlich die Bemerkung, dass das so natürlich nicht stimmt. Nebenbei sieht man auch schon im Film selbst, wie der Architekt ein Flugblatt in die Hand gedrückt bekommt, in welchem er die "Antiströmung" erkennt. Soweit aber der Protest zeitweise tatsächlich leiser wurde, lag das schlicht daran, dass der allgemeine Glaube an die Realisierbarkeit des Projekts schon längst erschüttert war. Aber nicht alle hatten so tiefe Einsicht in die projekt-interne Problematik, und so verblieben bei vielen Ängste bestehen.
Natürlich hat der Film seinerseits keinen anderen Eindruck befördern können als die Aussichtslosigkeit des Projekts. So kommt es, dass nun der Bürgermeister den Filmemacher selbst wesentlich für das Scheitern des Projekts verantwortlich macht. Ansonsten führte der Widerstand durchaus eigens bis hin zu Aktionsbündnissen, zum Beispiel bestehend aus NABU, BUND, HGON und SDW.
Obwohl die Domäne auf ihrer größten Fläche Ackerbau betreibt und erst in zweiter Linie auch Weidevieh-Haltung, versteht es sich von selbst, dass dieses aus Naturschutzsicht immer noch weniger negativ ist als ein Vorhaben wie das geplante. Das Projekt brachte aber nicht nur den Naturschutz gegen sich auf, sondern auch kulturhistorische Stimmen. Denn die "Architektursprache" der Planung passt nicht zu dem klassizistischen Stil des bestehenden Ensembles, und im Endeffekt wäre ein typischer Kitsch nach Disneyland-Art entstanden. Das "Luftschloss" als Cover-Bild ist der konkreten Entwurfsplanung entlehnt und zeigt, was zu erwarten gewesen wäre.
Neben diesen Blickwinkeln musste es vor allem aber um den Erhalt der stillen Beberbecker Landschaft gehen, wie sie sich in den folgenden Bildern repräsentiert, bzw. um die Stille als hierzulande längst allgemein aussterbendes Schutzgut.
Am Ende hat sich Henners Traum durch seine Dimension selbst das Wasser abgegraben, und alles darf beim Alten bleiben. Gibt es dafür aber auch eine dauerhafte Garantie? Diese Forderung erheben auch zehn Jahre später wohl noch die Rinder, die hier zur Demo aufmarschieren.
In solcher Phalanx-Formation hätten Stiere natürlich mehr Respekt erwirkt, doch hier sind es nur hornlose Ochsen der Angus-Herde, die außerdem auch die Geschichte gar nicht aus eigener Erfahrung kennen. Denn die Angus-Rinder zogen erst später auf Beberbeck ein und lösten die noch im Film zu sehenden Schwarzbunten ab.
Die pittoresken Viehweiden unter den majestätischen Eichen sind Relikt des ehemaligen Gestüts, als hier noch edle Zuchtpferde weideten und die Beberbecker Hute tatsächlich eine Hute war.
Das Gestüt hatte zwischendurch auch die preußische Annexion Kurhessen-Cassels überlebt und wurde dann in Preußen sogar zu einem der fünf Hauptgestüte neben Trakehnen, Graditz, Neustadt/Dosse und Altefeld. Nachdem die große Zeit der Militär- und Wagenpferde vorbei war, wurde es 1929 aufgelöst. Doch ganz aktuell wird nach nun bald 100 Jahren die Zucht der Beberbecker wieder reaktiviert, gleich nebenan an der Sababurg.
Auf den Beberbecker Weidegründen gelang dem Film aber auch ein ganz besonderer Höhepunkt, nämlich eine ganz konkrete Umsetzung des Sprichworts "Wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen", nur mit alternativer, aber mindestens so spektakulärer Besetzung: Wildkatze und Rehbock. Am Ende lässt sich die Katze vom Böckchen "jagen". So mancher Tierfilmer wäre wohl froh über so ein Glanzstück. Beberbeck macht es möglich.
Die Beberbecker Huteflächen unter den alten Eichen dienten generell schon öfter als attraktive Filmkulisse, neben verschienenen Dokumentationen zum Beispiel auch in Spielfilmen wie König Drosselbart oder Ostwind. Wäre Henners Traum in Erfüllung gegangen, wäre das wohl kaum mehr möglich und wäre "Ostwind" wohl dort nicht gedreht worden. Und die Wildkatze wäre im Reinhardswald einen ihrer wichtigsten Standorte los. Denn selbst wenn die Eichen-Parzelle erhalten geblieben wäre, so doch nicht die Stille. Unten zu sehen: die markante Eichen-Dreier-Perspektive aus Ostwind Teil1 und Teil2.
Das nächste Bild blickt links der Hute-Allee talwärts zum Beberbecker Friedhof.
Das über dem Friedhof sichtbare Kornfeld wäre ebenfalls Henners Traum zum Opfer gefallen. In der dort zu sehenden Traktor-Fahrspur wurde der "fliegende" Ritt Ostwinds über die Felder gedreht, so wie er nebenstehend auf dem englischen Cover in der unteren Hälfte illustriert ist, wenn auch dort mit verfremdetem Hintergrund.
Da ist es am Rande vielleicht nicht ganz uninteressant, dass die Schul- und Schulhofszenen in Ostwind samt brennendem Auto real in Henners einstigem Gymnasium gedreht worden sind, auch wenn das vielleicht nur ein Zufall sein mag.
"Ene, mene, Miste, 's rappelt in der Kiste.
Ene, mene, Maus, und du bist raus."
(Henner Sattler)